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Ronald Gerschewski leitet die Welp Group, einen Zulieferer für Spritzgusswerkzeuge, Kunststoff und

Metallbauteile. Er spricht über Trends auf dem Markt und wieso auch neue Mobilität individuell sein kann.

– Die Fragen stellte Thomas Günnel –


» Herr Gerschewski, wie haben sich die Anforderungen in der Branche mit Blick auf neue Mobilitätsformen verändert?

Software und Vernetzung in Autos werden immer wichtiger, die Zulassungszahlen von Elektrofahrzeugen steigen deutlich – das erfordert neue oder zusätzliche Qualifikationen bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Auch die Kundenerwartungen und damit die Anforderungen an die Fahrzeuge ändern sich. Wenn der Verbrennungsmotor und der klassische Antriebsstrang entfallen, öffnet das neue Möglichkeiten für die Innenräume, die hochflexibel gestaltet werden können. Und auch hier werden immer mehr digitale Systeme Einzug halten, welche wiederum veränderte Entwicklungs- und Produktlebenszyklen erfordern.

Weitere Zukunftsfelder und Trends sind beispielsweise das autonome Fahren und die Vernetzung von Fahrzeugen und städtischer Infrastruktur. Diese Entwicklungen wiederum gehen mit gänzlich neuen Mobilitätskonzepten einher. So sind für den urbanen Raum insbesondere autonome Mobilitätslösungen in der Entwicklung, zum Beispiel Robotaxis. Autonome Fahrzeuge brauchen neben einer schnellen Datenanbindung und hoher Rechenkapazität hochleistungsfähige Sensoren, mit denen sie ihr Umfeld erfassen können. Und sie müssen möglichst wendig und in ihrer Verwendung flexibel sein, sodass sie im besten Fall für den Personentransport und die Warenlogistik einsetzbar sind. Diese sektorenübergreifende Mobilität wird uns in Zukunft begleiten.

Für unsere Sonder- und Sonderschutzfahrzeuge ergeben sich durch die automobile Transformation ebenfalls neue Herausforderungen für den Umbau, die Adaption und die Ertüchtigung. Diesen begegnen wir mit einem verstärkten Entwicklungsfokus, aber auch neuen Kooperationen.


» Wie verändert der Wunsch nach nachhaltigen Fahrzeugen die Anforderungen an Komponenten und Fahrzeuge?

Die größte Veränderung ist sicherlich die Umstellung auf alternative Antriebsformen: Elektromotor, Brennstoffzelle oder vielleicht E-Fuels. Der komplette Lebenszyklus des Fahrzeugs und seiner Komponenten rückt in den Fokus. Bei der Entwicklung und Konstruktion muss dementsprechend darauf geachtet werden, dass die Komponenten und Baugruppen recyclinggerecht ausgelegt werden. Bei der Produktion kommen zunehmend wiederverwendbare oder recycelte Materialien beziehungsweise nachwachsende Rohstoffe zum Einsatz.

Am Ende des Lebenszyklus werden die einzelnen Komponenten recycelt oder einer weiteren Verwendung zugeführt. Neben diesen technischen Themenfeldern tangiert der Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit in der Mobilität neue effizientere Mobilitätsformen, vor allem in urbanen Verkehrsräumen. Aber auch die Fertigung der Baugruppen und Fahrzeuge ist energieaufwendig und wird sich verändern. Zu dieser Betrachtung gehört auch die Frage, inwieweit ein Unternehmen umweltbewusst und nachhaltig handelt. Wir lassen unsere Energie- und Umweltmanagementsysteme beispielsweise regelmäßig und unabhängig überprüfen sowie nach DIN EN ISO 50001 und DIN EN ISO 140001 zertifizieren.


» Stichworte: People Mover und Mikromobilität. Welche Fahrzeugkonzepte werden in den kommenden zehn Jahren verstärkt auf den Straßen zu sehen sein?

Ich denke, wir werden Lösungen für den urbanen Raum und für die Langstrecke sehen. Im urbanen Raum werden pragmatische, einfache Lösungen zum Einsatz kommen, wie es sie heute schon mit E-Scootern gibt. Diese werden in Verbindung mit den ÖPNV und Robotaxis individuelle Mobilitätskonzepte ermöglichen. Der Fokus der Automobilindustrie liegt dabei stark auf Konzepten wie dem People Mover, um die letzte Meile zwischen ÖPNV und Arbeitsplatz oder Wohnung zu gestalten. Hier gibt es großes Wachstumspotenzial, auch wenn noch viele technische und rechtliche Fragen offen sind.

Bei der Langstrecke sind im privaten Rahmen dann eher Themen wie der Komfort wichtig, im gewerblichen dagegen Faktoren wie Stauraum etc. Das heißt, hier wird es eher in Richtung „klassische Fahrzeuge“ gehen, wenn auch mit nachhaltigeren Antriebsformen. Wir erwarten individuelle, anwendungsfallspezifische Lösungen und damit auch gänzlich neue gesamtheitliche Ansätze. Dabei verhalten sich Märkte oft unterschiedlich. Weitere Treiber sind Anwendungen, in denen Mobilität schon heute eher als Dienstleistung und weit weniger individuell umgesetzt ist.


» In der jüngeren Vergangenheit gab es oft Konzepte zu revolutionären Innenräumen; etwa mit drehbaren Sitzen oder weitläufigen Displays. Wie realistisch sind solche Ideen?

Der Trend geht in diese Richtung. Die Innenräume werden flexibler und individueller, Caroffice wird irgendwann das Homeoffice ergänzen. Die Voraussetzung ist, dass Autos tatsächlich hoch automatisiert oder autonom fahren und die Insassen sich auf andere Aktivitäten konzentrieren können. Das wird mittelfristig möglich sein. Die Frage ist aber nicht nur, ob Fahrzeuge das technisch können, sondern auch, ob es gesetzlich erlaubt ist.


» Gibt es eine spürbare Entwicklung hin zu neuen, nachhaltigeren Materialien?

Wie bereits erwähnt spielen recycelte und nachwachsende Werkstoffe wie Naturfasern, Holz, Rezyklate etc. eine immer wichtigere Rolle. Zu dieser Entwicklung gehört auch, dass künftig weniger Werkstoffe fest miteinander kombiniert werden sollten, da diese Materialverbindungen nur sehr schwer beziehungsweise energetisch aufwendig aufgetrennt und recycelt werden können. Viele namhafte Automobilhersteller setzen bereits Recyclingmaterialien ein. Zudem sind weitere nachhaltige Werkstoffe in der Entwicklung.


» In der Produktionslogistik ist häufig die Rede von Individualisierung und kleinen Losgrößen. Ist das tatsächlich ein so großes Thema – wo es auf der anderen Seite immer häufiger darum geht, ob das eigene Fahrzeug noch sinnvoll ist?

Das ist ein spannendes Thema. Auf der einen Seite strebt jeder Mensch nach Individualität. Denken Sie nur an Smartphones: Jeder Nutzer hat unterschiedliche Apps, eine andere Hülle etc. Das Gleiche gilt bei Fahrzeugen – davon profitieren wir als Kleinserienspezialist. Aber natürlich ist es produktionslogistisch eine große Herausforderung, dass die Stückzahlen pro Produkt allgemein kleiner werden.

Auf der anderen Seite unterliegen die OEMs einem hohen Effizienzdruck. Und Mobilität wandelt sich: Carsharing gehört für viele Menschen zum Alltag. Das steht erst mal im Gegensatz zur Individualität. Aber warum sollte es etwa beim Carsharing nicht möglich sein, jedem Fahrzeugnutzer eine individuelle Konfiguration zu bieten? Die Außenlackierung lässt sich natürlich „noch“ nicht auf Knopfdruck ändern, aber Funktionen und Features können über die Software individualisiert angepasst oder per Over-the-Air-Update freigeschaltet werden. Ich sehe da also kein striktes Entweder -oder, wenn es um Individualisierungen geht.
 

» Welche Fertigungstechniken nutzen Sie im Prototypenbau?

Grundsätzlich verbinden wir Handarbeit mit maschineller Unterstützung. In diesem Zusammenhang nutzen wir neben diversen technischen Verfahren auch verschiedene 3D-Druck-Techniken. Damit können wir – wo es sinnvoll ist – klassische und manuelle Arbeitsschritte ersetzen und so schnell und günstig Prototypen, Modelle, Funktionsmodelle oder kleine Vorserien erstellen.
 

» Entwickeln mit einer durchgängigen Datenbasis – gelingt Ihnen das? Wo hakt es dabei branchenweit noch?

Wir nutzen gruppenweit eine gemeinsame IT-Struktur mit kompatibler Software, daher ist das für uns inhouse kein Problem. Aber wenn wir Daten versenden oder erhalten, müssen wir diese häufig konvertieren oder anpassen. Es gibt branchenweit unterschiedliche Software.

Und selbst wenn Unternehmen die gleiche Software einsetzen, sind es oft verschiedene Versionen. Also müssen wir und die anderen Unternehmen immer wieder Brücken schlagen. Das ist manchmal kompliziert und kann Kraft kosten. Einheitlichere Standards würden der ganzen Branche in Sachen Effizienz, Qualität und Sicherheit zugutekommen.
 

Autor: Ronald Gerschewski, Thomas Günnel

  • Georgsmarienhütte
  • 13.09.2021
  • Ronald Gerschewski, Thomas Günnel